Sampling - Künstlerische Praxis und Forschungsprozess
Dr. Tobias Hartmann, 2023
Sampling - Künstlerische Praxis und Forschungsprozess
Seit etwas mehr als einem Jahrhundert geistert der Begriff Sampling durch die Welt, und ich freue mich immer wieder, wenn er mir aufs Neue begegnet. Durch meine eigene Annäherung an das Phänomen Sampling im Zuge meiner Dissertation Vgl. Hartmann, 2022. bildeten sich davon ausgehend weitere Themenschwerpunk für meine zukünftige künstlerisch-forschende Arbeit heraus. Hierbei lassen sich im Wesentlichen zwei Phasen in einem an sich kontinuierlichen Prozess skizzieren.
Sampling - Recherche und Experiment
Die erste Phase ist rückblickend eine weitestgehend von Recherchen und Experimenten geprägte Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand Sampling in Theorie und Praxis. Den zugrundeliegenden Erkenntnisprozess beschreibt der Künstler Uriel Orlow treffend mit den Worten:
[D]er Prozess des Recherchierens (sowie der des Experimentierens) [kann] als ein intensives, assoziatives Erkunden und Ermitteln verstanden werden, das Wissensfragmente, also kleines Wissen, anstrebt. Wo es bei der Forschung um Wissensproduktion geht, könnte man beim Recherchieren von Wissensintensivierung sprechen. Es geht also nicht hauptsächlich um neues Wissen, das teleologisch angepeilt wird, sondern um ein retikulares, verzweigtes Abtasten von zum Teil bereits vorhandenem, latentem Wissen, das nicht unmittelbar sichtbar oder zu erfassen ist und im Prozess der Recherche neu zugänglich gemacht und kombiniert wird. Dieses latente Wissen ist nicht unbedingt in klassischen Archiven oder Speichern zu finden, sondern zum Beispiel in kollektiven Gedächtnissen, an geschichtsträchtigen Orten, in der Landschaft oder im Körper selbst anzusiedeln. [...] Die epistemischen Konsequenzen einer so verstandenen Recherche sind nicht unbeachtlich: Sie produzieren keine singuläre, offenbarende Sonne, die neues, großes Wissen zutage bringt. Vielmehr entsteht in diesem retikularen, rhizomatischen Rechercheprozess eine Art Sternenhimmel, der das Unsichtbare, Nicht-Mitteilbare und Unwissbare nicht erhellt, sondern intensiv nachvolziehbar macht und deren einzelne, kleine Lichtquellen erst bedeutungsgebend sind,wenn sie als Konstellation einer Vielheit zusammengedacht werden. Orlow 2015: 201 - 204.
Die von mir gewählte Form der Auseinandersetzung mit dem zentralen Forschungsgegenstand - den Begriffen Sampling und Sample - versteht sich in weiten Teilen als ergebnisorientierte Dokumentation von Rechercheprozessen und Experimenten zur Annäherung an das sowohl theoretisch fassbare als auch sinnlich erfahrbare Phänomen Sampling. Dabei gehen theoretische Bezugnahmen Hand in Hand mit künstlerisch-praktischen Methoden. Das später schriftlich fixierte Resultat kann (in Anlehnung an Uriel Orlow) als Sternkarte des Bedeutungshorizontes von Sampling gelesen werden. Meine Dissertation Das Phänomen Sampling verzeichnet so gesehen die Positionenverschiedener Himmelskörper (wie den Bedeutungen der Begriffe Sampling und Sample) sowie einzelner Sternbilder (zum Beispiel bestimmte Sampling-Diskurse) relational zueinander. Es artikuliert in der Darstellung dieser »Konstellation einer Vielheit« sowohl jeweils charakteristische Attribute, bildet gleichzeitig durch Gegenüberstellung Beziehungen ab und thematisiert so Bedingungen von Nachbarschaften, Verbindungen und Grenzen. Es bietet damit eine Hilfestellung zur individuellen Orientierung im Sampling-Kosmos und bei der Erkundung der noch unbekannten Quadranten.
Sampling - Modellbildendes System
Die zweite Phase lässt sich anhand der Thesensammlung Die Kunst als modellbildendes System Vgl. Lotman 1981. des Literaturwissenschaftlers Juri Michailowitsch Lotman beschreiben. Das Lesen einer Karte dient Juri Lotman als Beispiel, um das Verhalten beim Gebrauch eines Erkenntnismodells gegenüber dem, wie er es nennt, gewöhnlichen und praktischen Verhalten zu differenzieren: »Niemand, der mit dem Finger auf der Landkarte wandert, wird sich einbilden, daß er dadurch eine tatsächliche Fortbewegung im geographischen Raum vollzieht« Vgl. Lotman 1981: 70.. Kunst versteht Juri Lotman diesem Beispiel entsprechend als modellbildendes System und ein Kunstwerk als Analogon der Wirklichkeit, beziehungsweise eines Objektes. Er postuliert, dass die Natur eines Kunstwerkes nicht dessen äußere Form sei, sondern »die Realisierung der im Modell enthaltenen Information« Vgl. Lotman 1981: 69.. Die Kunst sei »Aneignung der Welt (Modellierung der Welt) in einer fiktiven Situation« Vgl. Lotman 1981: 83.. Für die Kunst - verstanden als modellbildendes System - beziehungsweise für ein Kunstwerk - verstanden als symbolisches Analogon der Wirklichkeit oder eines spezifischen Obiektes - kommt er zu der Formel:
Ich weiß, daß dies nicht das ist, was es darstellt, aber ich sehe klar, daß es das ist, was es darstellt.Vgl. Lotman 1981: 68.
Diese Formel verweist meines Erachtens auch auf als Sample verstandene Phänomene oder Gegenstände der Betrachtung und skizziert treffend das für Samples charakteristische ambivalente Moment in der Praxis des Sampling: Sampling ist immer eine Mediation zwischen wahrnehmbarer (akustischer) Wirklichkeit und der Rezeption deren medientechnischer Ver- und Bearbeitung, jedoch erst, nachdem diese selbst wiederum durch eine Form der Darbietung sinnlich erfahrbare (akustische) Realität geworden ist. Daher erscheint eine sowohl theoretische als auch praktische Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand Sampling unumgänglich. Juri Lotman stellt ferner heraus, dass ein künstlerisches Modell stets reichhaltiger und lebendiger sei als dessen Interpretation. Jeder Versuch der alleinigen Interpretation bleibe ein Versuch der Annäherung:
[B]ei der Umcodierung eines künstlerischen Systems in eine nichtkünstlerische Sprache [bleibt] jeweils ein unübersetzbarer Rest - eben jene Mehrinformation, die nur im künstlerischen Text möglich ist.Vgl. Lotman 1981: 83.
Juri Lotmans hier stark verkürzt wiedergegebene Ausführung (es bleibt beispielsweise offen zu diskutieren, ob und inwiefern Kunst grundsätzlich Text ist und dementsprechend zu lesen sei) halte ich für relevant für die Kunst des Sampling, denn sie beschreibt viele von Wissenschaftlerinnen und KünstlerInnen gleichermaßen thematisierten Aspekte: In Bezug auf das Unheimliche oder Referenzielle, das Wirkmächtige oder Passive, das Virtuose oder Verspielte, das Kulturerhaltende oder Destruktive, das Innovative oder Konventionelle an Sampling ist beispielsweise immer etwas mehr an einem Sample oder der Sampling-Praxis als das bloße Signal, das akustische Event oder das auditive Phänomen. Ein zentrales und anschauliches Beispiel dafür ist die Feststellung des Sampling-Visionärs, Theoretikers und Filmemachers Kodwo Eshun, dass ein Sample als »Universum in einem Körnchen Sound« erfahren werden könne.Vgl. Eshun 1999. Auch das von dem Kulturwissenschaftler Jochen Bonz beschriebene Potenzial von Sampling, etwas Vertrautes aus dem realen Leben überraschend in musikalische Kontexte einzubringen, klangliche Situation inhaltlich vollständig umzudeuten oder Subjekten alleine durch die Wahrnehmung von Sound Identifikation zu ermöglichen, ist ein Verweis auf in Samples enthaltene Mehrinformationen, die weit über das reine medientechnische Klangmaterial hinausreichen.Vgl. Bonz 2006. Die jeweils implizierten Mehrinformationen lassen sich in der Theorie zwar vermuten oder erahnen, sie treten jedoch erst durch die sinnlich erfahrbare Sampling-Praxis zu Tage. Sie sind zwar in Worte zu fassen und ab der ersten Formulierung nicht mehr aus der Welt zu denken, doch können sie immer erst durch die Praxis einer wahrnehmbaren Aufführung, Darbietung oder sonstigen akustischen (Re-)Präsentation erlebt werden.
Zurück zur zweiten Phase meiner Auseinandersetzung mit Sampling: Die theoretische Analyse von Sampling-Praktiken gewährt Einblicke in künstlerische Prozesse und zeigt beispielsweise auf, wie vielfältig Sampling durch das Agieren mit unterschiedlichen, als Sampler verstandenen Instrumenten aufgefasst werden kann. Doch erst die künstlerische Sampling-Praxis lässt unbekanntes Terrain nicht nur erahnen und nachvollziehen, sondern tatsächlich auch akustisch erkunden und für die Gesamtheit der Sinne eines Menschen fassbar darstellen. So thematisiert ein von mir im Zuge der Forschungsarbeit theoretisch abgeleiteter Sampling-Prozess die akustischen Resultate der zeitlich unkonventionellen Verarbeitung einzelner Sample-Werte. Schließlich macht jedoch erst das darauf basierende Audio-Tool One Sample OSCDownload One Sample OSC das zwischen den einzelnen Samples Klingende umfassend zugänglich. Das klangliche Potenzial der ursprünglichen Idee lässt sich in der Theorie nur erahnen und als Vermutung verbalisieren. Doch erst in der Praxis eröffnet die Realisation des Prozesses durch das Audio-Tool die Möglichkeit, die Auswirkungen dieser speziellen Form der digitalen Signalverarbeitung unmittelbar zu erleben. Denn nur in der Anwendung entlockt der Prozess einzelnen Sample-Werten tatsächlich gänzlich neue beziehungsweise unvorhersehbare Klänge. Er generiert damit nicht nur klangliches Material, das über den gewünschten oder bekannten Informationsgehalt eines digitalen Signals hinausgeht. Er lässt auch charakteristische Eigenschaften zeitbezogener Prozesse der digitalen Signalverarbeitung hörend nachvollziehen. Sie werden durch diese Form der Sonifikation auf eine alternative Weise dargestellt und erweitert zugänglich gemacht. Alle klanglichen Elemente, welche diese Mehrinformation schlussendlich repräsentieren, qualifizieren sich als künstlerisches Material.
Sampling - Forschende Tätigkeit
Was ich zunächst als Verzahnung und wechselseitige Ergänzung von Theorie und Praxis beschrieben habe, würde ich in die Zukunft blickend mittlerweile konsequenter formulieren: Sampling ist eine künstlerische Handlung, die in der experimentellen Praxis und theoriebezogenen Recherche das Aufspüren und Nachvollziehen von dem, was Juri Lotman als die Mehrinformation im Künstlerischen bezeichnet, grundsätzlich ermöglicht. So gesehen ist die Kunst des Sampling im Kern ein auf Erkenntnisgewinn zielender Prozess und gleicht damit in seiner Ausrichtung jeder forschenden Tätigkeit.
Offen bleiben die Fragen: Lässt sich diese Auffassung generalisieren und auf künstlerische Praktiken per se übertragen? Welches Moment genau macht eine bestimmte künstlerische Praxis zu einer wissenschaftlichen, beziehungsweise eine wissenschaftlich motivierte Tätigkeit zu einer künstlerischen Handlung? Was genau unterstreicht die Relevanz einzelner Beiträge für Forschung und Kunst?
Aktuell scheint mir dies zumindest keine Frage der Legitimation zu sein, denn es gibt bereits eine Verwandtschaft zwischen jenen künstlerischen Praktiken und theoriebasierten, wissenschaftspraktischen Prozesse, die auf Erkenntnisgewinn zielen und Wissenszuwachs oder Neuordnung von Wissenszusammenhängen ermöglichen. Es kann auch nicht darum gehen, Kunst und Forschung gegeneinander auszuspielen und beispielsweise einzelne Methoden als wissenschaftlich angemessen zu bestätigen oder als künstlerisch unbrauchbar zu disqualifizieren. Vielmehr sehe ich Entwicklungsbedarf dahingehend, in welcher Form zukünftig Gegenstände beschrieben, Prozesse dokumentiert und Ergebnisse kommuniziert werden. In diesem Zusammenhang ist die von mir abgeleitete These als ein erster Aufschlag zu verstehen: Bereits das möglichst anschlussfähige Sprechen über Sampling und die ausreichend detaillierte Beschreibung des jeweiligen Gegenstandes der Betrachtung führen weiter, als ständig aufs Neue durch das Setzen immer ausdifferenzierterer Definitionen zu reflektieren, was Sampling im Einzelnen sei. Damit dies gelingt, sollten immer folgende Aspekte thematisiert werden:Vgl. Hartmann 2022: 269 - 276.
- Auf welche Form der Bezugnahme wird verwiesen?
Sampling betrifft eine eindeutig bestimmbare Bezugnahme eines Elements, das als aktiv charakterisiert werden kann, auf ein anderes Element,das sich durch Passivität auszeichnet. - Wie sind die betroffenen Materialeinheiten beschaffen?
Sampling betrifft einen bestimmten Zusammenhang zwischen elementaren Teilen und einer übergeordneten Struktur, die sich aus diesen oder aus der Summe von Ableitungen von diesen zusammensetzt. - Welche zeitlichen Dauern sind relevant?
Sampling betrifft bestimmte minimale und maximale zeitliche Dauern und bezieht sich entweder kontinuierlich oder in diskreten Schritten auf zeitliche Verläufe.
Es bleibt zu prüfen, ob dieser Ansatz (neben Sampling) auch in anderen Kontexten hilfreich sein und weiterführen kann. Zusätzlich gilt es zu erproben, inwiefern neben Sprechakten und Verständnisprozessen auch andere Praktiken - beispielsweise solche, die eine umfassende sinnliche Erfahrung ermöglichen - einen Mehrwert generieren.
Ganz gleich, um welche zukünftigen Interessen und Themen es gehen wird: Es ist wichtig und relevant, die künstlerische Praxis als Erkenntnisprozess und forschende Tätigkeit uneingeschränkt anzuerkennen. Neue beziehungsweise in anderen Bereichen bereits etablierte Methoden zur anschlussfähigen Dokumentation von Ergebnissen sowie zum möglichst breit aufgestellten Wissenstransfer sollten als Ergänzung oder Alternative der jeweils individuellen Arbeitspraxis erprobt und deren kontinuierliche Weiterentwicklung hinsichtlich eines transdisziplinären Austausches in den Blick genommen werden. Diesen Themen sollten wir zukünftig im Zuge künstlerisch-forschender Tätigkeiten sowie der forschenden Kunstpraxis mehr Raum geben und dabei gerade das zunächst unkonventionell Erscheinende nicht außer Acht lassen.
Literaturverzeichnis
- Bonz, Jochen (2006): »Sampling. Eine postmoderne Kulturechnik.« In: Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Hg. v. Christoph Jacke, Eva Kimminich u. Siefried J. Schmidt. Bielefeld: transcript, S. 333–353.
- Eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne - Abenteuer in der Sonic Fiction. Berlin: ID Verlag
- Hartmann, Tobias (2022): Das Phänomen Sampling. Eine multiperspektivische Annäherung. (Musikmachdinge. ((audio)). Ästhetische Strategien und Soundkulturen. Band 5. Hrsg.: Großmann, Rolf und Ismaiel-Wendt, Johannes). Hildesheim, Zürich, New York: Georg-Olms-Verlag und Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim. DOI: 10.18442/MMD-5. ISBN: 978-3-487-16028-3. Dissertation.
- Lotman, Juri Michailowitsch (1981): Kunst als Sprache - Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Hg. v. Klaus Städtke. Leipzig: Reclam.
- Orlow, Uriel (2015): »Recherchieren.« In: Künstlerische Forschung. Hg. v. Jens Badura et al. Zürich, Berlin: Diaphanes, S. 201–204.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Hartmann, Tobias (2023): »Sampling: Künstlerische Praxis und Forschungsprozess«, in: Magazin der Kunsthochschule für Medien Köln. Nr. 1: a river doesn't need a name. Köln: Verlag der Kunsthochschule für Medien Köln. S. 90 – 94. ISBN: 978-3-942154-64-2.